"Fremd ist der Fremde nur in der Fremde"

Eine beeindruckende Rede von André Heller anlässlich der Benefiz-Matinée der Concordia Sozialprojekte am 16.12.2018 in Wien.

 

Illustre Zuhörer, 

 

sich selbst ins grelle Licht der Öffentlichkeit zu stellen und sich dort zumindest gedanklich Preiszugeben, erscheint mir mit zunehmendem Alter immer einschüchternder, weil die Sehnsucht nach Harmonie und einer Konfliktfreien Zone, wahrscheinlich kennen das einige unter Ihnen, an manchen Tagen über einem, wie eine riesige Welle zusammenschlägt und man nichts als im Stillen, fernab aller Geschäftigkeit, auszittern möchte. Und doch weiß man, es wäre mit Sicherheit besser gewesen, früher, vor Jahrzehnten, öfter einmal den Mund zu halten. Damals, als man naturgemäß noch viel unerfahrener war, aber auch flapsiger, anmaßender, gnadenlos bewertender, pointenverliebter und insgesamt gefallsüchtiger. Ich überlege jedenfalls mittlerweile weitaus sorgfältiger zu welchem Anlass es mir überhaupt zustehen könnte das Wort zu ergreifen. Übrigens scheint mir die weitverbreitete Vorstellung, dass ein sogenannter Künstler prinzipiell besondere Kompetenz hätte sich zu quasi allen relevanten Fragen des menschlichen Lebens öffentlich zu äußern völlig absurd. Man kennt sich ja selbst zumeist nur in Vermutungen und Umrissen, wie sollte man dann erst der Welt, in ihren Milliarden Nuancen, fundiert auf den Grund gegangen sein. Eher ist man ihr wohl allzu auf den Leim gegangen. 

 

Das Projekt Concordia, unter dem äußerst wirksamen Schutz und der Leitung von Ulla Konrad, Pater Markus Inama und der wirbelwindischen Herren Christian Konrad und Hans Peter Haselsteiner ist von einer derartigen Sinnhaftigkeit, dass man froh sein muss, wenn man die Auszeichnung erfährt irgendetwas dafür tun zu dürfen. 

 

Concordia, das bedeutet und ist friedlicher Zusammenhalt und auch Eintracht. Concordia auf allen Ebenen ist allerdings auch eines der beschämendsten Mankos unserer gebeutelten Zeit. Wir haben zum Beispiel in Österreich nach 1945 eilig, oft zu eilig, viele Gräben zugeschüttet und dieser Tage werden hierzulande und weltweit ununterbrochen und allerorten Gräben aufgerissen. Das man in diese Gräben auch selbst hineinfallen kann, scheint bis zum schmerzhaften Aufprall in Vergessenheit geraten zu sein. Die Angst vor dem Fremden weitet sich massiv aus: nicht nur die Armen, die zur Flucht gezwungenen, die Andersgläubigen, die sexuell anders Orientierten, die ethnischen Minderheiten sind mittlerweile das Feindbild, sondern für viele auch längst schon die Menschenrechte per se, die sich der Objektivität verpflichtet habenden Medien, auch die Alten oder die Jungen pauschal, oder laut lachende Radfahrende Kinder im Hof eines Gemeindebaus. Fremdheit überall! Es ist verrückt. Und Irgendwann machen viele die Erfahrung, dass man sich selbst das Fremdeste überhaupt ist und, dass man vor diesem Selbst nicht fliehen kann und, dass der einzige Ausweg wäre, sich mit diesem Selbst vertraut zu machen und mit diesem vertraut gewordenen in eine Freundschaft einzutreten. Damit, liebe Zuhörende, wäre mit Sicherheit viel für die Welt gewonnen. 

 

Es gibt Gottseidank in der Kulturgeschichte begnadete Philosophen, die das Wesentliche: die Nöte, die Tragödien, auch die Komödien, die Glückslaunen, das Lächerliche derart präzise auf den Punkt bringen, dass sie einem zum verlässlichen Tröster, Ermutiger und schlussendlich zum seelischen Familienmitglied werden. In meinem Leben ist das, unter anderem, der begnadete Komiker Karl Valentin. „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde!“ hat er gesagt. In einem anderen Sketch stürmt er verzweifelt in das Büro seines mächtigen Chefs und brüllt den verdutzten an: „Eines merken Sie sich gefälligst: nicht Sie sind von mir abhängig, sondern ich von Ihnen!!“

 

Hitler war, aus seiner Münchner Zeit her, ein Fan vom Valentin und einmal, da war er schon an der grausamen Macht, trafen sie sich bei einer Veranstaltung und Valentin sagte: „Mein Führer, Sie wissen ja gar nicht was Sie für ein Glück haben, dass Sie Hitler heißen und nicht Kräuter.“ Warum? Fragte der Braunauer. „Naja da würden die Massen ja alle schreien, Heil Kräuter!“ Das ist Widerstand vom Feinsten. Und 1944 hat Göbbels angeschafft, dass auch Valentin in einer Rundfunkansprache etwas zur Ermutigung und zum Durchhalten der kriegsgequälten Bevölkerung beitragen müsse. Der Komiker bewältigte den Auftrag in etwa folgendermaßen: „Liebe Deutsche vor euren Volksempfängen, da fliegen die wild entschlossenen englischen Bomber-Piloten von London über den Ärmelkanal, über Belgien bis nach Berlin und werfen dort ihre tödlichen Waffen ab und unsere heldenhaften deutschen Piloten fliegen von Berlin über Belgien über den Ärmelkanal nach London und werfen dort ihre furcht und schreckenverbreiteten Bomben ab. Bedenkt doch: Was für eine Verschwendung von Zeit und Treibstoff. Da wäre es doch viel klüger und billiger, die Engländer würden gleich selbst London bombardieren und die Deutschen Berlin.“ Es war Valentins letzte Rundfunkansprache unter den Nazis. Etwas in seinem Ausmaß und seiner Absurdität klar zu durchschauen ist wichtig. Dann aber bitte kein Herumgerede mehr auch kein bejammern, sondern wenn irgend möglich handeln. Tun. 

 

Concordia kann da durchaus Vorbild sein. Über Tausend Kindern und jungen Menschen, deren Ausgangssituation in höllischen Generalumständen festgenagelt zu sein schien, wurde und wird bei diesem Projekt ein Tor und ein Weg in Gesundheit, in eine Würde, eine gute Ausbildung, in eine Chance auf eine Qualitätszukunft, also letztlich in eine Freude ermöglicht. All dies auf der Grundlage von tatkräftigem Mitgefühl. Wohlgemerkt: Mitgefühl nicht Mitleid. Von Mitleid hat niemand etwas, das schwächt nur. Für Concordia oder ähnlich wirksame humanitäre Unternehmungen erfolgreich Gelder zu akquirieren heißt nicht weniger, als die Welt um eine wesentliche Nuance zu verfeinern. Ich bewundere alle Frauen und Männer, die einen Gutteil ihrer kostbaren Lebenszeit dafür nutzen, wirksame Rettungsringe in das Meer der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu werfen. Und ich bewundere dementsprechend Persönlichkeiten, die unermüdlich an vielen Orten und zu unterschiedlichen Themen großzügigst mit eigenem Geld Flächenbrände der Nöte löschen oder zumindest Erleichterung beim Tragen des Bleigewichtes der Armut ermöglichen. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt,“ ich würde hinzufügen und Schwester „das habt ihr mir getan.“ hat der Sozialrevolutionär Jesus von Nazareth gesagt. Christus, der wohl keine Religion gründen wollte, sondern an eine, von jeher überfällige, Durchflutung aller Gesellschaftsschichten mit Liebe und des füreinander Verantwortung- Übernehmens als Schlüssel zu einer gerechten und friedvollen Welt glaubte. 

 

Finanzierung für Concordia zu sammeln. Auch zu diesem Thema fällt mir Karl Valentin ein. Er geht als armer Mann zu einem Reichen und bittet um Hilfe. Der Reiche fragt: „Wieviel brauchen Sie?“ Und Valentin antwortet: „Naja, mindestens 100 Mark, aber mit 1000 wäre mir auch schon geholfen.“ Das könnte das Motto jeder Hilfsorganisation sein: mindestens 100 aber mit 1000 wäre mir auch schon geholfen. Der sogenannte Vater Staat, der sich übrigens mit diesem Begriff ganz in der Männlichkeit verankert, ist je nach Mentalität und Empathiebegabung der Regierenden auch immer wieder ein Rabenvater. Zumindest für die Millionen und Abermillionen unter die Räder der Ignoranz der wohlhabenden Länder geratenen, sowie der Ignoranz der überwältigenden Mehrheit der privilegierten Gewinner, jener sich Sekunde für Sekunde auf unserem Planten vollziehenden, schwindelerregend lukrativen Geschäftsvorgänge. Die Verlierer sind unzählbare Kinder, Frauen und Männer, Alte und Kranke, die auf allen Kontinenten des Engagements privater Initiativen bedürfen. Menschen die sehr oft gemütsmäßig und körperlich devastiert sind und davon träumen, wenn sie noch die Kraft haben zu träumen, es wenigstens gelegentlich ein bisschen gut zu haben. Eine alte, gehbehinderte, tapfere Frau die nach einem Arbeitsintensiven Jahrzehnten von einer Mindestrente lebt, hat mir das unlängst auf meine Frage, was sie sich wünschen würde gesagt: „Ach, Herr Heller, ich hätts halt gern ab und zu ein bisserl gut.“ 

 

Liebe Zuhörer, zu helfen, zu geben sollte keine Herablassung sein, auch keine Gewohnheit oder Tradition der Beschwichtigung des schlechten Gewissens, sondern eine unverzichtbare Grundeigenschaft des lebendigen Menschseins, wie das Atmen. Der unvergessene Kardinal König hat mir einmal erzählt, das ein italienischer Kollege von ihm in einer seiner Predigten gefordert habe, dass die Armen und die Reichen näher zusammenfinden müssen, im Geben und Nehmen und die Reichen bereitwilliger geben müssen. „Beten wir für dieses Wunder“ hatte er gesagt. Zwei Tage später sei ein Sozialarbeiter zu ihm gekommen mit der Nachricht, das halbe Wunder wäre immerhin schon wahr geworden. „Wie schön“, sagte der Kardinal. „Was ist genau geschehen?“ „Naja Eminenz, die Armen unserer Stadt haben mit Mehrheit beschlossen, dass sie bereit sind die milden Gaben anzunehmen.“ Ein prachtvolles Beispiel für Ironie. 

 

Noch eine zweite kurze Geschichte. Der geniale Alfred Polgar hat sie aufgeschrieben und sie hat mich als Kind nachhaltig beeindruckt und beeindruckt in ihrer Prägnanz noch heute. Der Titel ist „Soziale Unordnung“. 

 

„Was wünschen Sie zum Abendbrot?“ fragte der Gefängnisdirektor den armen Sünder der morgen früh am Galgen sterben sollte. „Sie dürfen essen und trinken, was und wieviel Sie wollen.“ „Schade!!“ sagte der Delinquent „Wirklich schade! Wenn Sie mich das 3 Monate früher gefragt hätten, wäre der ganze Raubmord nicht passiert.“ 

 

Es gab früher den Ausdruck: trefflich gesagt! Der ist leider aus der Mode gekommen, aber ich verwende ihn gerne, zum Beispiel für Begegnungen mit meinem kostbaren Freund Helmuth Qualtinger, über den ich lange, lange interessantes erzählen könnte. Wenige Wochen vor seinem Tod traf ich Qualtinger in Gesellschaft des Dichters Erich Fried zufällig, bei strömenden Regen, in der Wiener Krugerstraße, wo Prostituierte in Haustoren frierend auf Kunden hofften. „Bei so einem Wetter möchte ich keine Hur sein.“ sagte ich und Helmuth antwortete „Bei welchem Wetter möchtest du es?“ Qualtingers Replik war nicht nur witzig, sondern auch tief empfunden. Sie bedeutete: „Siehst du nicht ernsthaft das Elend dieser Frauen bei jeder Witterung?“ Qualtinger war entgegen seinem Image ein besonders liebevoller, einfühlsamer Freund, auf den man sich an guten und an schlechten Tagen erstklassig verlassen konnte. Einmal sind wir an einem eiskalten Winterabend an einen zitternden Bettler geraten. Helmuth hat ihn lange und genau betrachtet und dann plötzlich geschrien „Wos is des für a gschissene Wöd!“ und sich seinen Pelzgefütterten grünen Parka vom Leib gerissen, dem Mann umgehängt, mir befohlen: „Gib ihm deinen Wollschal!“ und dann hat er den Fassungslosen noch unser mitgehabtes Geld zugesteckt und wir sind weitermarschiert. Ich habe ihn gefragt: „Was ist da gerade mit dir geschehen?“ „I hob mi in dem Bettler selber gsehn.“ War seine Antwort. „Des wor ganz einfach i und er wor a ganz einfach du. Verstehst?“ Ja ich verstand und verstehe noch immer und hatte dann noch in späteren Jahren die gleiche Erfahrung. Concordia. Zusammenhalt.

 

Woher kommt diese weitverbreitete Wollust nach Bosheit und Grobheit, nach der ordinären Verunglimpfung, der von grinsen begleiteten Herabsetzung der Anderen, der unversöhnliche blinde Hass und die Gewaltbereitschaft gegen Menschen denen man nie persönlich begegnet ist. Das vernarrt sein in hundertfach erwiesenen Unsinn, das engagierte nachplappern unfassbar idiotischer Verschwörungstheorien, das heftige Wiedererstarken des Antisemitismus, das Leugnen des Anteils der Menschen am Klimadesaster, die rechtsfreien Räume der Internetpranger, die keine Unschuldsvermutung mehr seriös berücksichtigen und die in Jahrhunderten zum Wohle der Gesellschaft mühsam erarbeitete Rechtssicherheit häufig außer Kraft setzen, der Grundsatz Audiatur et altera pars (man höre auch die andere Seite) wird täglich Millionenfach verhöhnt. Woher kommt bei den einen diese Raserei der irrationalen Ängste und bei den anderen diese erschreckende Apathie, als durchquerten sie in Trance eine brunnenlose Wüste die ein Spiegelbild ihrer eigenen inneren Verwüstung bietet.

 

Was sind die Gegenmaßnahmen? Es gibt keinen Zweifel: wir brauchen die überfällige Revolution der Verfeinerung in unserem Bewusstsein. Den Aufruhr der uns das Werkzeug der positiven Machtmöglichkeiten unserer Gedanken und der daraus abzuleitenden, heilenden, fantasiereichen, feinsinnigen Taten übergibt. Eine der Haupthilfsmittel für diesen Quantensprung wäre natürlich, alle wissen es ohne Ausrede, die Ermöglichung exzellenter Bildung für wirklich jeden und jede. Bildung bestimmt maßgeblich die Chancen im Leben der Frauen und Männer, sie hilft unseren Charakter zu formen, beflügelt unser Selbstwertgefühl, sie gibt uns Urteilsfähigkeit, die Gewissheit der Sinnhaftigkeit von Toleranz und dem was die Juden Rachmones, Barmherzigkeit und Güte nennen. Bildung schafft auch die Grundlagen für die immer wackliger werdende Demokratietauglichkeit so vieler. Wer diese Revolution der Verfeinerung nicht mitträgt, lässt die lernfähigen Menschen im Stich. Lässt die Zukunft unseres Planeten und unserer Nachfahren im Stich, lässt sich selbst im Stich. Bildung, Bildung bedeutet wesentlich auch Herzensbildung und Bildung ist ein nur mit dem Tod endender Vorgang.

 

Concordia also. Bitte Hundert, aber mit Tausend wäre uns auch schon geholfen. Und, dass ich es nicht vergesse, es ist ja Adventzeit und in ein paar Tagen Weihnachten. Es gibt einen Satz von Angelus Silesius, der zum gescheitesten gehört, das je ausgesprochen wurde, er lautet: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht einmal in deinem Herzen, so wärst du dennoch verloren.“